Fritz-Glöckner-Preis der Wilinaburgia
Volker Schmidt
Sehr geehrte Abiturientinnen und Abiturienten,
im Namen der „Wilinaburgia“ darf ich Ihnen ganz herzlich zu ihrer Reifeprüfung gratulieren und Ihre Eltern, Verwandte und Freunde sowie Herrn Direktor Ketter, die Schulleitung, die Tutorinnen und Tutoren, die anwesenden Personen des Lehrkörpers, die Sekretärinnen und Hausmeister, schließlich die hier versammelten Schülerinnen und Schüler begrüßen.
Für die, die es nicht geschafft haben, habe ich die tröstliche Zuversicht, dass all ihre Vorgängerinnen und Vorgänger, soweit ich sie kenne, einen durchaus erfolgreichen Weg für sich gefunden haben.
Nun, nach 13, bei einigen wohl nach 13 plus X Jahren, sehr vereinzelt vielleicht auch einem weniger, erhalten Sie heute Ihr „Abi-Zeugnis“. - Doch das stimmt nicht.
Das „Abi-Zeugnis“ - vom lateinischen Verb abire - weggehen abgeleitet - meint eigentlich ein Abgangszeugnis. Sie halten aber das „Zeugnis der Allgemeinen Hochschulreife“ in Ihren Händen.
Der Begriff „Matura“, wie er in Österreich und der Schweiz gebräuchlich ist, also der Begriff „Reife“, träfe das Ereignis daher weitaus präziser.
Diese Wortklauberei mag einerseits bloß den schrulligen Überlegungen eines pensionierten Deutschlehrers entsprungen sein. Andererseits lenkt sie jedoch den Blick auf den Kern der Sache.
Die Reife. - Was ist „Reife“?
Sie können mit Ihrem Zeugnis - Zulassungsbeschränkungen außen vor - jedes Fach an einer Universität studieren, gleichgültig, welche Leistungskurse sie gewählt hatten und in welchen Grundkursen Sie geprüft worden sind.
Viele hätten dabei gern auf Deutsch, sehr viele am liebsten auf Mathematik verzichtet.
Egal.
Sie besitzen jetzt die „Allgemeine Hochschulreife“. Das macht deutlich, dass „Reife“ offensichtlich mehr meint, als ein bestimmtes Fach studieren zu können.
Was ist also „Reife“? - Zwei Überlegungen möchte ich dazu anstellen.
„Das hat alles die KI für mich gemacht.“
Dieser Satz findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. Mai dieses Jahres und stammt von einem Maturanden, der gesteht, keinen einzigen Satz von Goethes Faust I und II selbst gelesen zu haben. Mittels ChatGPT hatte er sich auf die Prüfung vorbereitet. Er erhielt eine 6. Umgerechnet sind das 15 Punkte.
KI ist, wir alle wissen es, kein Gespenst, sondern Realität in unserem Alltag. Zusammen mit den Zauberwörtern Digitalisierung und social media bildet sie mittlerweile einen Begriffsrahmen, der zunächst nicht mehr zu sein scheint, als die Beschreibung der unaufhaltsam bis in die allerletzte Ritze vordringenden und überall als selbstverständlich und unumgänglich erscheinenden Computertechnologie, die unbestritten viele Vorteile in sich birgt.
Freilich hat die glänzende Seite der Medaille eine Rückseite, auf der Begriffe wie Desinformation, Cyber-Kriminalität, Cyber-War, Cyber-Mobbing und fake-news eingeprägt sind.
Das Potential der Cybertechnologie steigert, in welcher Form auch immer, die Möglichkeiten, die seit dem 19. Jahrhundert Technik und Naturwissenschaften für unsere globalisierte kapitalistische Welt bereitstellen und die Gesellschaft selbst einem, so der Soziologe Max Weber, fortschreitenden Prozess der Rationalisierung unterwerfen.
Wurden, so der Sozialphilosoph Jürgen Habermas im Jahr 1968, Technik und Wissenschaft zu einer Idologie des 20. Jahrhunderts, gesellt sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts die Digitalisierung hinzu und potenziert mitsamt ihren Algorithmen jenen Rationalisierungsprozess, der immer mehr Freiheit verspricht, zugleich aber neue Zwänge hervorbringt und von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vor genau 80 Jahren, aber keineswegs überholt, als „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben wurde.
Technik, Wissenschaft und Digitalisierung bilden eine Matrix, die unser Leben bestimmt und hinter der sich die wirklichen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen und Inhalte für uns verbergen. Diese Matrix ist die herrschende Ideologie.
Stabilität und Wachstum des Wirtschaftssystems als die, wenn nicht die wichtigsten politischen Ziele überhaupt, geben dann der Politik, so Habermas, einen negativen Charakter.
„Sie ist“, sagt er, „an der Beseitigung von Dysfunktionalitäten und an Vermeidung von systemgefährdeten Risiken, also nicht an der Verwirklichung praktischer Ziele, sondern an der Lösung technischer Fragen - nun erweitert durch die Computertechnologie, möchte ich ergänzen - orientiert.“
Die Lebenswelt des konkreten Menschen spielt dabei am Ende keine Rolle mehr.
Zwei kleine Beispiele.
Das „Gesetz zur Einsparung von Energie und zur Nutzung erneuerbarer Energien zur Wärme- und Kälteerzeugung in Gebäuden (Gebäudeenergiegesetz - GEG)“, bekannter als Heizungsgesetz, regelt die technische Seite, wenn es in diesem Bereich um Klimaschutz geht.
Über den besteht weitgehend Konsens.
Die erste politische Umsetzung des GEG, also die Verwirklichung in der Praxis, endete, wie wir wissen, in einem politischen Desaster, weil eine diskursive Verständigung unter allen, wirklich allen Betroffenen und Beteiligten, unterblieb.
Aber das ist nur ein Beispiel für etwas, das allein deshalb sinnvoll erscheint und forciert wird, weil Technik, Wissenschaft, Cybertechnologie es möglich machen können und ihre Interessenvertreter es uns nicht nur als wünschenswert und wichtig, sondern als unumgänglich nahelegen. Die politische Umsetzung nimmt dann die unmittelbar praktischen Folgen für die Menschen selbst gar nicht mehr in den Blick. Das GEG ist umgesetzt, das Klima ist nur zum Teil gerettet. Ich aber stehe vor dem Bankrott.
2. Beispiel.
Ja, „SuedLink“, die Stromtrasse, muss kommen,
aber wehe mein Acker muss dann für die Stromleitung umgegraben werden oder der Strommast steht dann zu nahe an meinem Wochenendgrundstück oder der Lebensraum des gestreiften nordischen Waldhamsters wird - Wer hat rechtzeitig an ihn gedacht? - gestört.
Proteste, Bürgerbegehren, Verwaltungsgerichtsverfahren sind die Folgen eines Vorgehens, dass die Lebenspraxis der Bürger nur zu gerne ausblendet, weil Technik, Cybertechnik und Wissenschaft zur herrschenden Ideologie geworden sind, die zusammen mit ihre Adepten sich für unfehlbar halten und sowohl die eigentlich hinter ihnen stehenden Interessen als auch die lebenspraktischen Folgen für die Gesellschaft und ihre Individuen verschleiern.
Vereinfacht zusammengefasst:
„Alles, was gerade los ist“- das sagt uns X (EX)/twitter.
„Make your Day.“ - sagt tiktok.
„It’s your world.“ - sagt Instagram
Solche Zusammenhänge zu erkennen und zu durchschauen, jenen ideologischen Schleier zu lüften, der alles was Technik, Wissenschaft und Computertechnologie umgibt und ihnen prima facie Legitimität verleiht, - kurz, sich die Frage „Cui Bono?“ - Wem nützt es? - zu stellen
- das ist das, was für mich unbedingt zur Reife gehört und über die sie, Stichwort Reifezeugnis, verfügen sollten.
Um die Frage „Cui Bono?“ sinnvoll stellen zu können, muss ich einer Aufforderung nachgehen, die, so Imanuel Kant, der Wahlspruch jeder Aufklärung ist.
Sapere aude! - Gehe das Wagnis ein, selbstständig zu denken, Wissen zu erlangen, mündig zu sein.
Womit wir bei meiner zweiten Überlegung sind.
Kant geht in seinem berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“
- von dem Sie vielleicht gehört, ihn jedoch kaum gelesen haben werden -
sieben Jahre nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und sechs Jahre vor der französischen Revolution davon aus, dass wir uns schnell und gern aus Bequemlichkeit - so Kant mit bissiger Ironie - „Vormündern, die die Oberaufsicht über uns gütigst auf sich genommen haben“, unterordnen. Und nachdem diese „Vormünder“ „ihr Hausvieh - also uns - zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe - also wir - ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie uns einsperreten, wagen durften: so zeigen sie uns nachher die Gefahr, die uns drohet, wenn wir versuchen, allein zu gehen.“
Es liegt nahe, dass Kants Vormünder, sein „Gängelwagen“, heute nicht mehr allein die zu seiner Zeit althergebrachten und später dann die neu hinzugekommen Autoritäten sind, sondern solche, die in allen Spielarten des Cyberuniversums sich tummeln und zusammen mit Technik, Wissenschaft, dem Konglomerat der Medien und sozialen Medien sowie einer auf Funktionalität ausgerichteten Politik ein Geflecht bilden, dem zu entrinnen Mut erfordert und ein Wagnis ist.
Platte Beispiele für unsere neuen „Vormünder“ sind google, wikipedia, der shit-storm, die Influenzerin, der Experte mit und ohne Gender-Stern, die Zahl der Follower, die Verschwörungstheoretiker und nicht zuletzt die, die lauthals vermeintlich einfache Lösungen für Probleme anbieten, für die es in Wahrheit keine einfachen Lösungen gibt.
Kant weiß, dass der Weg der Aufklärung schwer ist. Doch er ist zuversichtlich. Denn die von den „Vormündern“ beschriene Gefahr, bei den selbständigen Geh-Versuchen zu fallen, „ist eben so groß nicht, denn wir würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen.“
Die Frauen und Kinder auf dem Bild strahlen, trotz Gängelwagen und Gängelband, diese Zuversicht für mich aus.
Damit solches gelingen kann, bedarf es einerseits wenig und andererseits unendlich viel.
Unser Mut ist gefordert, mehr aber noch, so Kant, die Freiheit von „unserer Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch machen“ zu können.
Freiheit, Demokratie und Frieden - alle Drei sind heute offensichtlich nicht einmal mehr in Europa selbstverständlich - werden so zum Unterpfand - Sie erinnern sich an unsere Nationalhymne, Strophe 3? -, dass Sie mit der Ihnen attestierten Reife einerseits in der Welt etwas werden und andererseits dazu beitragen können, die Welt lebenswert zu machen.
Also: sapere aude!
Fritz Glöckner ist der Namenspatron des Preises, den ich nun im Namen der Wilinaburgia an die jeweils Besten der drei Fachbereiche und erstmals für besondere sportliche Leistungen verbunden mit einer hervorragenden Gesamtleistung im Fach Sport verleihen dar. Glöckner erhielt 1930 an dieser Schule sein Reifezeugnis und war von 1950 bis 1973 Lehrer am Philippinum. Seine Biographie verrät, dass er sich nach seiner Entlassung aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1948 konsequent von den „Vormündern“ lossagte, die seine Ausbildung zum Lehrer bestimmten und ihn sechs Jahre in den Krieg schickten. Rückblickend meinte er, er habe seiner Schule, die heute Ihre Schule ist, viel zu verdanken. Konsequent stiftete er der Wilinaburgia, deren Mitglied er selbstverständlich mit der Reifeprüfung wurde, einen Teil seines Nachlasses, den Grundstock des nach ihm benannten Preises.
Tun Sie es ihm nach! Denken Sie einmal darüber nach, was Sie dem Gymnasium Philippinum verdanken und was Sie ihm zurückgeben können. Das ist ganz einfach.
Werden Sie Mitglied der Wilinaburgia! Unterstützen Sie so ganz einfach und praktisch das Gymnasium Philippinum, Ihre Schule
Den Preisträgerinnen - deren deutliche Überzahl Bände spricht -, dem Preisträger und Ihnen allen wünsche ich alles Gute.
Den Fritz-Glöckner-Preis erhalten:
Im Fachbereich I: Elisabeth Katharina Kuhnigk
Im Fachbereich II: Anna Weber
m Fachbereich III: Amelie Weber
Im Fach Sport: Marián Nathanael Ehresman
Herzlichen Glückwunsch!